Die Deutschen und ihre Wälder (2/2)

Hervorgehoben

Ungebrochen überstand die Liebe der Deutschen zu ihren Wäldern die blutigen Konflikte, Krisen und Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts. Noch immer wirkte die Vorstellung einer besonderen Beziehung der Deutschen zu ihren Wäldern nach, häufig mit nationaler Symbolik oder spirituell aufgeladen. In der Nachkriegszeit als Rückzugsort wiederentdeckt, sollte schon bald die Sorge um ein drohendes „Waldsterben“ die schlimmsten Befürchtungen um den Zustand der deutschen Forstgebiete die Deutschen umtreiben. Diese Ängste sollten schließlich eine neue Partei in die Parlamente befördern, die nicht nur frisches Personal in die Legislative von Bund und Ländern brachte, sondern auch die Politik der Republik der folgenden Jahrzehnte maßgeblich beeinflussen sollte.

Im Jahr 1864 sollte ein Territorialstreit zwischen Preußen und Dänemark um die Gebiete Schleswig, Holstein und Lauenburg, bis 1806 Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, zum Auslöser des Krieges zwischen beiden Staaten werden. Zu dieser Zeit war der 1815 gegründete Deutsche Bund ein zergliederter Staatenbund souveräner Fürsten- und Herzogtümer sowie freier Städte. Nach dem deutschen Sieg über Dänemark spitzte sich der Streit zwischen Österreich und Preußen um die Führungsrolle im Deutschen Bund zu. Preußen wollte den Staatenbund in einen Bundesstaat transformieren, Österreich war um den Erhalt seiner Stellung bedacht und wollte den Deutschen Bund in seiner bestehenden Form erhalten. Die preußische Regierung legte am 10. Juni 1866 einen entsprechenden Reformplan für einen kleindeutschen Bundesstaat ohne Österreich den übrigen Mitgliedstaaten vor, die daraufhin antworten sollten, ob sie bereit wären, dem neuen Bund unter den genannten Bedingungen beizutreten. Mit dem Einmarsch preußischer Truppen drei Tage zuvor am 07. Juni 1866 in das seit dem Sieg über Dänemark von Österreich verwaltete Holstein, hatte Preußen bereits Fakten geschaffen, die zum Auslöser des Preußisch-Österreichischen Krieges 1866 werden sollte.

In den Jahren darauf mündete der seit Jahren schwelende Konflikt mit Frankreich, getragen von beiderseitigen Großmachtsambitionen, der sich durch die vorangegangenen siegreichen Kriege 1864 und 1866 noch verschärfte, in den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Dieser dritte und letzte der drei „Einigungskriege“ führte mit der Kaiserproklamation im Versailler Spiegelsaal 1871 zur Gründung des Deutschen Reiches. Zu seinem ersten Kaiser wurde, wenn auch eher widerwillig, der Preußenkönig Wilhelm I. ernannt. Als eine Nation geboren in „Blut und Eisen“ (Bismarck), betrat ein autoritärer Obrigkeitsstaat preußisch-militaristischer Prägung als neue Großmacht die europäische Bühne. Ein Taumel nationaler Begeisterung erfasste das Land und seine Gesellschaft und weckte das Bedürfnis nach identitätsstiftenden Symbolen und Mythen. Wieder diente das Narrativ der Varusschlacht als Symbol deutscher Stärke und Unverwundbarkeit. Dem siegreichen Arminius zu ehren, dessen Name mit Herrmann eingedeutscht wurde, errichtete man bei Detmold im südlichen Teutoburger Wald eine über 50 Meter hohe Kolossalstatue. Am 16. August 1875 feierlich eingeweiht nach vierzigjähriger Bauzeit, wurde es zum monumentalen Ausdruck eines neuen nationalen Selbstbewusstseins. Das drohend und siegessicher erhobene Schwert weist nicht in Richtung Rom, sondern in westliche Richtung nach Frankreich, dem damaligen „Erbfeind“. Es trägt die Inschrift „Deutsche Einigkeit meine Stärke meine Stärke Deutschlands Macht“.

Das Herrmannsdenkmal bei Detmold im südlichen Teutoburger Wald

Die Heldenverehrung für den Cheruskerfürsten veranlasste Heinrich Heine bereits 1844 aus seinem Pariser Exil in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ zu einem Spottvers:

„Das ist der Teuteburger Wald,

Den Tacitus beschrieben,

Das ist der klassische Morast,

Wo Varus stecken geblieben.

 

Hier schlug ihn der Cheruskerfüst,

Der Herrmann, der edle Recke,

Die deutsche Nationalität,

Die siegte in diesem Drecke.

 

Wenn Herrmann nicht die Schlacht gewann,

Mit seinen blonden Horden,

So gäb‘ es deutsche Freiheit nicht mehr,

Wir wären römisch geworden!“

Nach dem Sieg über Frankreich wurden im ganzen Reich „Kaisereichen“ oder „Sedaneichen“ gepflanzt und ihr zahllose Gedichte gewidmet. Der Deutsche Wald diente einmal mehr als Kriterium zur Definition des deutschen Nationalcharakters. Die Vorstellung von den Deutschen als eines in ihren Wäldern fest verwurzelten „Waldvolkes“ erfuhr eine zunehmend völkische und radikalnationalistische Konnotation und eine zunehmend von Exklusion geprägte Dimension.

Aufbruch und Untergang

Um die Jahrhundertwende entstand die Bewegung des Natur- und Heimatschutzes. Ihre Anhänger setzten dem landschaftszerstörenden Kapitalismus und seinen zerstörerischen Auswirkungen auf die Natur mit seinen hässlichen Gebäuden und Reklametafeln die Idee eines Naturdenkmalschutzes entgegen. Bedrohte Tier- und Pflanzenarten sollten geschützt und alte Bäume vor dem Abholzen bewahrt werden. Doch während heutige Umweltschutzgruppen, Parteien und Verbände gegenüber Innovationen und der Moderne allgemein aufgeschlossen zeigen und sie nicht per se verteufeln, war die damalige Umweltschutzbewegung betont antimodern eingestellt, wenn sie auch genau wir ihr heutiges Pendant ihre Anhängerschaft hauptsächlich im naturfernen Bürgertum fand. In der rauen ländlichen und bäuerlich geprägten Lebensrealität indes fehlte indes jeder Sinn für die romantisierende Ästhetik städtischer Intellektueller.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine Wanderbewegung, die sich in zahllosen Vereinen im ganzen Reich organisierte. Diese versprach ihren Anhängern das Erleben eines besonderen Freiheitsgefühls, fernab von der hektischen Moderne, frei von elterlicher und staatlicher Bevormundung und den strengen Kleidungszwängen ihrer Zeit mit Anzügen und steifem Kragen. Der 1901 durch Karl Fischer gegründete Wandervogel e. V. stand ab 1907 auch Mädchen offen und fand bald auch Anhänger unter Arbeiterkindern. Die 1913 abgehaltene 100-Jahr-Feier der Völkerschlacht in Form eines „Freideutschen Jugendtages“ betonte noch einmal die enge Verbindung zwischen emanzipatorischem Freiheitsgedanken und nationaler Mythen. Doch Karl Fischer brachte auch einen militärischen Geist in seine Bewegung. Hierarchische Gruppenstrukturen, verbunden mit Kriegsspielen und einer Opfer- und Kameradschaftsethik, die ihre Anhänger nicht nur 1914 begeistert in den Krieg ziehen ließ, sondern später auch Eingang in die Hitlerjugend finden sollten gehörten zum Kern der Jugendbewegung.

Nach der dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1918 konnten Rechtsextremisten wie auch die Nationalsozialisten leicht an die patriotisch aufgeladene Natursymbolik anknüpfen. In dieser Vorstellung wurde mit den Holzforderungen der Franzosen durch den Versailler Vertrag nicht nur an den Wald, sondern damit auch am gesamten deutschen Volk die Axt angelegt. Eine weitere Denkrichtung verknüpfte ab den 1920ern den Naturschutzgedanken mit dem der Gesundheit. Volk und Land bildeten in dieser völkischen Vorstellung eine organische Einheit. Die Gesundheit der Bevölkerung hing in dieser Vorstellung eng mit dem Zustand der Natur zusammen, ihre künstliche Veränderung sollte das Gleichgewicht stören und nur in einer gesunden Landschaft könne ein gesunder Mensch leben. Der Konstruktion eines deutschen „Waldvolkes“ setzten die Nationalsozialisten in ihrer Blut-und-Boden-Ideologie die Juden antagonistisch als „Wüstenvolk“ entgegen. Als „boden- und wurzelloses Volk“, sich nur in der Steppe heimisch fühlend, seien diese nur darauf aus, den deutschen Wald zu zerstören.

1933 kam es zur Machtübernahme der Nationalsozialisten. Ihr 1935 erlassenes Reichsnaturschutzgesetz sollte vordergründig Naturschutzgebiete schaffen, doch wurden diese Pläne bald durch Kriegsvorbereitungen und Autarkiebestrebungen des Regimes durchkreuzt. Durch den ebenfalls 1935 geschaffenen Reichsarbeitsdienst (RAD) wurden gleichzeitig durch Trockenlegung von Mooren und Sumpfgebieten, der Begradigung von Flüssen und Wasserläufen andere Naturräume zerstört, um diese auszubeuten und landwirtschaftlich nutzbar zu machen. Denn tatsächlich war den Nationalsozialisten der Gedanke einer Notwendigkeit des Umweltschutzes in Bezug auf die eigenen Lebensgrundlagen völlig fremd. Der Begriff „Umwelt“ war den damaligen Zeitgenossen noch unbekannt und ökologische Zusammenhänge wurden nur rudimentär verstanden. Stattdessen wurde die Anwendung und Entwicklung energie- und schadstoffintensiver Verfahren im Rahmen der Kriegswirtschaft weiter forciert, um natürliche Rohstoffe durch künstliche zu ersetzen.

1939 folgte nach einer jahrelangen militärischen Aufrüstung unter Brechung des Versailler Vertrages und dem Aufbau der Wehrmacht als starke Offensivstreitmacht der Angriffskrieg gegen Polen nach einem mit der Sowjetunion geschlossenen Nichtangriffspakt, der die Aufteilung Polens unter den beiden Kriegsparteien beschloss. 1941 erfolgte schließlich unter dem Decknahmen „Unternehmen Barbarossa“ der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion. Im Rahmen eines gigantischen Kolonialisierungsprojekts sollten die eroberten Gebiete „germanisiert“ werden. Das Konzept vom „Lebensraum im Osten“, das hier zur Anwendung kommen sollte, hatte seinen Ursprung in der völkischen Bewegung des Kaiserreichs und wurde von den Nationalsozialisten aufgegriffen, um eine rücksichtslose Ausrottungs- und Vernichtungspolitik in den eroberten Gebieten Osteuropas zu betreiben. Im Zuge dieses Projektes wurden große Teile der als „rassisch minderwertig“ eingestuften einheimischen Bevölkerung massenhaft in das „Generalgouvernement“ deportiert. Juden wurden in Ghettos umgesiedelt, in Konzentrations- und Vernichtungslager interniert oder durch mobile Einsatzgruppen noch vor Ort ermordet und in Massengräbern verscharrt.

Die Blaupause für das Projekt, der „Generalplan Ost“, sah eine Anwerbung deutscher Siedler vor, die, nach streng rassischen Kriterien ausgewählt, als Bauern die eroberten Gebiete kultivieren und bewirtschaften sollten, um das Reich zu versorgen und damit von ausländischen Importen unabhängig zu machen. Mit der Errichtung sogenannter „Wehrdörfer“ sollte ein Bollwerk gegen Feinde aus dem Osten geschaffen werden, um diese im Falle eines Überfalls zurückzuschlagen. Neben dieser „Eindeutschung“ sollte jedoch auch gleichzeitig die Natur nach deutschen Vorbildern umgestaltet und der „deutschen Landeskultur“ angepasst werden. Der Generalplan sah eine Aufforstung der Wälder vor, der „germanisch-deutsche“ Mensch sollte sich schließlich in seiner neuen Umgebung heimisch fühlen. Zu einer Umsetzung dieser Pläne sollte es nicht kommen, die Kriegslage verschlechterte sich in den folgenden Jahren und das Deutsche Reich den selbstverschuldeten Krieg schließlich 1945 verlor.

Die Nachkriegszeit

Nach dem Krieg sollte der Wald als Ort der Erholung wiederentdeckt werden, doch noch lange sollten Vorstellungen von einer engen Beziehung zwischen Wald und Volk in die Nachkriegsgesellschaft hineinwirken. Noch immer fanden sich nach 1945 in Publikationen wie in der 1947 gegründeten „Schutzgemeinschaft Deutscher Wald“ vorbelastete Konzepte wie das des „Waldvolkes“ wieder. Die im Zuge der westdeutschen Währungsreform 1949 eingeführte 50-Pfennig-Münze zierte eine „Kulturfrau“, wie man Waldarbeiterinnen damals noch nannte, die einen Eichensprössling pflanzte als Symbol einer verheißungsvollen Zukunft.

Die Kulturarbeiterin als Symbol der Hoffnung auf einer 50-Pfennig-Münze

Im Genre des Heimatfilms, das in den 1950er Jahren wieder aufblühte, diente der Wald erneut als Kulisse für kitschige Liebesdramen und soziale Konflikte. Filme wie „Grün ist die Heide“ von 1951 oder der „Förster vom Silberwald“ von 1955 wurden zu Kassenschlagern. Als Protagonisten traten häufig Förster neben lokalen Autoritäten wie Geistliche, kleine Gewerbebetreibende und Bürgermeister als Hüter konservativer Werte und Traditionen in Erscheinung. Als Gegenspieler fungierten häufig skrupellose Geschäftemacher aus der Großstadt oder Wilddiebe in den oft mit kitschigen Liebeswirren angereicherten Geschichten. Frühe Versuche, die NS-Vergangenheit oder die Kriegsfolgen filmisch aufzuarbeiten, wie „Die Mörder sind unter uns“ aus dem Jahr 1946 oder das Kriegsheimkehrerdrama „Liebe 47“ waren dagegen weniger erfolgreich. Zu groß war nach dem Krieg die Sehnsucht nach einer heilen unberührten Welt, fernab zertrümmerter Städte oder gar der Frage nach persönlicher Schuld. „Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen.“ So urteilte der zeitgenössische Schriftsteller Elias Canetti („Masse und Macht“, 1960) über das Verhältnis der Deutschen zu ihren Wäldern.

Selbst im real existierenden Sozialismus der DDR knüpfte man an den Geschichtsmythos der Varusschlacht an und deutete ihn in einem marxistischen Sinne um. Die römischen Invasoren standen nach dieser Lesart für einen imperialistischen Sklavenhalterstaat und wurden zum Gegenspieler einer romantisch verklärten germanischen Gesellschaft mit „urkommunistischen Eigentumsverhältnissen“. Auch der Bauernkrieg von 1524 – 1526 erfuhr in der DDR eine realsozialistische Neuinterpretation unter Berufung auf das Konzept einer „frühbürgerlichen Revolution“ von Friedrich Engels, in dem der Bauernkrieg in Verbindung mit der Reformation gemeinsam in einen revolutionären Kontext gesetzt wurden.

1980 entstand in Westdeutschland mit „Die Grünen“ eine Partei, die den Umweltschutz zu ihrem zentralen Thema machte. Die in der frühen Gründungsphase noch beteiligten Rechtsextremisten und ehemaligen NSDAP-Mitglieder wie Baldur Springmann, Werner Vogel (ehemals SA) wurden durch starke linke bis linksextremistische Kräfte, wie den K-Gruppen schon bald aus der Partei gedrängt und die neue Partei verstand es, den Umweltschutz mit der sozialen Frage zu verbinden. Zunehmend setzte sich hier ein modernes und wissenschaftsbasiertes Umweltverständnis durch. In der Folge der Auseinandersetzungen zwischen den „Fundis“ und „Realos“ blieben letztere als die Vertreter einer realpolitischen Vorstellung von Politik in der Partei tonangebend. Wenn es dort auch heute noch immer an Befürwortern alternativer Heilmethoden wie Homöopathie oder Anhänger der anthroposophischen Waldorfpädagogik nicht mangelt, fehlt ihr dennoch das antimoderne Element ihrer geistigen Vorläufer aus dem 19. Jahrhundert. Auch in der DDR entstand in den 1980ern, nicht zuletzt unter dem Eindruck massiver Umweltschäden, verursacht durch Militär und Industrie, eine Umweltbewegung, die dort jedoch schnell ins Visier des MfS geriet. Nach der Wiedervereinigung fusionierten die Grünen mit dem Bündnis 90, einem Zusammenschluss oppositioneller Bürgerbewegungen der untergegangenen DDR.

Waldsterben und Klimakrise

In der ersten Hälfte der 1980er Jahre machte der Begriff des „Waldsterbens“, ausgehend von ökologischen Untersuchungen aus dem Jahr 1978 über den bedrohten Zustand der Wälder, in der deutschen Presselandschaft eine mediale Karriere. Vor diesem Hintergrund nahm sich der 1968 veröffentlichte Song „Mein Freund der Baum“ von Alexandra wie eine düstere Prophezeiung aus.

Durch anhaltende Luft- und Umweltverschmutzung seien diese vom Aussterben bedroht. Auch wenn die Wälder während des Mittelalters durch exzessive Nutzung teilweise in einem wesentlich schlimmeren Zustand waren, zeichneten Umweltaktivisten und Redakteure Untergangsszenarien an die Wand, die beim französischen Nachbarn Erstaunen auslösten. „Waldsterben“ galt als ein urdeutsches Thema. Die Losung „Erst stirbt der Wald, dann der Mensch“ drückte die Ängste einer Mittelschicht aus, die mit dem Wald jedoch selbst immer seltener in Berührung kam. Schnell entstand ein parteiübergreifender Konsens, der der Rettung der Wälder oberste Priorität verlieh. Sperrte sich die SPD noch in den 1960er Jahren gegen Gesetze gegen Luftverschmutzung mit dem Argument der Arbeitsplatzsicherung im Ruhrgebiet, so warnte der SPD-Abgeordnete Freimut Duwe via des SPD-Pressedienstes vor nicht weniger als einem „ökologischen Hiroshima“.

Nicht nur allein um die stärker werdende politische Konkurrenz durch die Grünen einzudämmen sahen die etablierten Parteien Handlungsbedarf. Auch die breite außerparlamentarische Opposition, die sich von links bis weit ins konservative Milieu unter dem Banner des Naturschutzes zusammenfand, sorgten für einen entsprechenden Handlungsdruck. Unterstützt wurden sie dabei von den NGOs wie Greenpeace oder Robin Wood, die das Thema immer wieder durch ihre spektakulären Aktionen in die Tagespresse brachte. 1980 entstand mit der Waldpädagogik eine Form der Bildungsarbeit, die den Wald als Lernort entdeckte und für sich in Anspruch nimmt, als erziehendes und bildendes Konzept einer Jugend, die kaum noch mit Wäldern in Kontakt kam, den Wald als Lebensraum wieder näherzubringen. Ökologische Zusammenhänge können so fernab von Klassenzimmern mit eigens geschulten Pädagogen auf neue Art erfahren werden. So wurden denn auch im Jahr 1983 unter der Regierung Helmut Kohl wichtige Gesetze zum Umweltschutz gegen den Widerstand der Energie- und Automobilindustrie erlassen. Doch eine weltweite Vorreiterrolle nahm sie damit nicht ein. Entschwefelungsanlagen für Kraftwerke und Katalysatoren für Autos waren in Japan und im US-Bundesstaat Kalifornien längst gesetzlich vorgeschrieben. Obschon damalige Forscher vor einer Überdramatisierung warnten, monokausale Ursachen im Hinblick auf das komplexe Ökosystem ausschlossen und einige Studien mit Mängeln behaftet waren, beherrschte das Thema neben Saurem Regen und Ozonloch noch lange Gesellschaft, Politik und Medien.

Durch den Klimawandel erhält das Thema Waldsterben erneute Relevanz, doch ein parteiübergreifender Konsens scheint heute nicht möglich. Trotz jährlich neuer Hitzerekorde, ungeachtet der zunehmenden Austrocknung der Böden, verweisen seine Leugner darauf, dass das von Experten angekündigte Waldsterben nicht eigetreten sei. Warnungen der Wissenschaft und einiger Medien werden entsprechend als Panikmache oder Lobbyarbeit abgetan. Umgekehrt argumentiert die Gegenseite, dass gerade die Gesetzesänderungen nicht nur das Waldsterben, sondern auch das schnell umgesetzte FCKW-Verbot die Ausbreitung des Ozonlochs verhindert hätten. Doch zu sehr hat sich nicht nur die deutsche Gesellschaft bequem mit ihren Verbrennern, Billigfleisch, Kreuzfahrten und Kurzstreckenflügen in einer Nische des Wohlstands und des Konsums auf Kosten zukünftiger Generationen eingerichtet. Jeder Appell zum Verzicht oder zum Maßhalten wird als Beschneidung der eigenen Freiheit gewertet. Die Losung der 1980er „Alle wollen zurück zur Natur, nur keiner zu Fuß“, scheint heute mehr denn je die aktuelle Gemütslage einer Gesellschaft zu beschreiben, die nicht bereit ist, ihr eigenes Konsumverhalten zu reflektieren und selbst kleine Veränderungen im Alltag vorzunehmen. Für Teile der extremen Rechten ist der Wald heute noch immer von ideologischer Bedeutung. Unter der noch immer in der Blut-und-Boden-Ideologie verwurzelten Losung „Umweltschutz ist Heimatschutz“ verknüpfen Neonazis, rechtsextreme Gruppierungen und Parteien einen harmlos erscheinenden Einsatz für den Erhalt der Umwelt mit Sozialdarwinismus und Debatten um Asyl und Zuwanderung.

Noch immer geht von Bäumen und Wäldern eine symbolische Wirkung aus und das nicht nur in Deutschland, denn mittlerweile ist eine Tendenz zur Europäisierung des Naturbewusstseins zu beobachten. Der Begriff des „Waldsterbens“ fand seinen Weg sowohl in die französische wie auch die englische Sprache und der Volkskundler Reinhard Johler entdeckte eine Übernahme des deutschen „Waldbewusstseins“ und deutscher Jagdtraditionen ins italienische Naturverständnis. Auch französische Kulturanthropologen beobachten die Adaption einer „logica germania“ in das eigene Naturbewusstsein, wo traditionell eher einsam wachsende Bäume statt ganzer Wälder den französischen Blick auf die Natur prägten.

Zum 40. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1997 in Wien wurde unter die einzelnen „Landesbäumen“ zwischen der deutschen Eiche und der und der italienischen Esche eine Eibe gepflanzt. Ein nur langsam im Unterholz wachsender Baum, der sich zu voller Größe herangewachsen als äußerst widerstandsfähig erweist, so wie die Europäische Union als eine langsam wachsende Staatengemeinschaft, wenn sie auch in Zukunft noch einige Krisen und Rückschläge zu bewältigen hat.

Literatur:

Lehmann, Albrecht. „Mythos deutscher Wald.“ Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Der deutsche Wald 51, 2001: 4-9.

Urmersbach, Viktoria. „Im Wald da sind die Räuber. Eine Kulturgeschichte des Waldes.“ Fröhlich & Kaufmann Verlag GmbH, Berlin 2018

Zechner, Johannes. „Natur der Nation. Der „deutsche Wald “als Denkmuster und Weltanschauung.“ Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 67.49-50, 2017: 4-10.

Die Deutschen und ihre Wälder (1/2)

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Eine ebenso wechselvolle wie innige Beziehung unterhalten die
Deutschen zu ihren Wäldern. Seit Jahrhunderten wirtschaftlich genutzt und ausgebeutet, wahrgenommen als Ort finsterer Mächte und Sagengestalten, als Märchenwelt mit bösen Hexen, spiritueller Erfahrungsraum oder Wirkungsstätte von Jagdfrevlern. Seine Schönheit in Literatur und Malerei stets aufs Neue beschworen, wurde der Wald zur Kulisse sozialer Konflikte und entwickelte sich im 19. Jahrhundert zur Projektionsfläche nationaler Sehnsüchte. Teil eins befasst sich mit der Kulturgeschichte des Deutschen Waldes“ bis kurz vor Beginn der Gründung des Deutschen Reiches 1871.

„Durch seine Wälder grauenerregend“ sei das Land und „durch seine Sümpfe grässlich.“ Das Urteil des römischen Geschichtsschreibers Tacitus (um 58 – ca. 120 n. Chr.) über Germaniens Landschaft war wenig schmeichelhaft. Positiver dagegen fiel sein Urteil über die Germanen aus. Im Gegensatz zu den opulenten Festen der Römer, lebten diese genügsam und monogam. Bescheiden würden sie von den Früchten und Tieren des Waldes leben, seien natürlich und ursprünglich. Doch das Germania, das Tacitus hier in seinem gleichnamigen Werk beschrieb, er hat es nie gesehen und seine Beschreibungen des Kampfgeschehens der Varusschlacht entstanden etwa 90 Jahre später. Drei römische Legionen wurden hier im Jahre 9 n. Chr. durch die Streitmacht des Cheruskerfürsten Arminius aufgerieben. Nach vier Tagen waren die Römer geschlagen, Varus selbst beging noch auf dem Schlachtfeld Selbstmord und stürzte sich in sein Schwert, gemeinsam mit einigen ihm ergebenen Offizieren. Es sollte die Geburtsstunde einer Legende werden, die erst im 19. Jahrhundert zum nationalen Mythos verklärt wurde. Tacitus‘ „Germania“ wurde bereits im 15. Jahrhundert wiederentdeckt, doch erst im 19. Jahrhundert unter anderem durch Jacob Grimm als authentische Schrift behandelt.

Der Wald im Mittelalter und Früher Neuzeit

Noch in vorchristlicher Zeit bot der Wald heidnischen Druiden einen Austragungsort ihrer obskuren Kulte. So soll sich der Name des Odenwaldes in Hessen vom kriegerischen Gott Odin ableiten. Um den Thor-Kult in Geismar bei Hessen zu beenden, fällte der Bischof und Missionar Bonifatius im Jahre 723 demonstrativ die dortige Donaueiche. Vergeblich warteten die Heiden, dass ihn für diesen Frevel die Rache der Götter treffen möge. Doch als dieser ausblieb, ließen sie sich zum christlichen Glauben bekehren. Das Holz der gefällten Eiche sollte zum Bau einer Kapelle verwendet werden, die Petrus geweiht wurde.

Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands wuchs im frühen Mittelalter die Bevölkerung von ca. 600.000 Menschen auf etwa 13 Millionen bis zum Spätmittelalter an. Mit diesem Bevölkerungszuwachs ging während des Mittelalters ein steigender Bedarf an Baumaterial in Form von Holz einher. Als wichtigster Rohstoff diente er nicht nur als Heizmaterial, sondern auch dem Bau von Fahrzeugen, Schiffen, Gebäuden und Waffen. Holzteer diente zur Abdichtung von Schiffen und Fässern und der Herstellung von Terpentinöl. Pechfackeln dienten zur Verteidigung von Burganlagen und Nutztiere wurden zur Futtersuche in den Wald getrieben, die das Unterholz niedertrampelten und alle erreichbaren Sprösslinge und nachwachsenden Triebe fraßen, bevor die Landwirtschaft eigens dafür angelegtes Weideland nutzte. Durch diese intensive Nutzung wurde der Wald im Laufe der Jahrhunderte zunehmend begehbar, wenn auch lange Zeit noch gefährliche Tiere wie Wölfe oder Bären in ihm lebten. Der Wald sollte dadurch seinen Charakter als Urwald verlieren. In der Nähe von Siedlungen entstanden öffentliche und gemeinschaftlich genutzte Flächen, sogenannte Allmenden, die zur wichtigsten Lebensgrundlage der Dorfbewohner wurden. Ganze Berufsgruppen lebten in und von den Wäldern wie Imker, Kohlenbrenner oder Teerschweler.

Darstellung der Novemberszene aus einem Stundenbuch des französischen Malers Jean Colombe (ca. 1430 - ca. 1493) zeigt, wie Schweine zur Fütterung in den Wald getrieben werden

Mit der Gründung immer weiterer Städte durch den Hochadel, wurden an die eingesetzten Stadträte auch mehr Waldrechte übertragen, da diese ihrerseits gezwungen waren, den ansässigen Gewerben Rohstoffe wie Holz als Bau- und Brennmaterial anzubieten. Das führte zu Konflikten mit der Bauernschaft, die dadurch eigene Rechte einbüßte. In den sogenannten „Bannwäldern“ hatte nur der jeweilige Landesherr das Recht zu jagen und Holz zu schlagen. Auch die Allmenden gerieten so nach und nach unter den Einfluss des Adels und zwang viele Dorfbewohner in grundherrschaftliche Abhängigkeit, die ein Auslöser des Bauernkrieges von 1524 – 1526 wurden. Den Verlust der Waldrechte kompensierten die Bauern schließlich durch eine effizientere Bewirtschaftung z. B. in Form der Dreifelderwirtschaft, der Züchtung ertragreicherer Sorten, durch den Wechsel zur Stallfütterung und die Einführung des Dreiräderpfluges.

Doch das Verhältnis der mittelalterlichen Gesellschaft zum Wald blieb stets ambivalent und war abhängig von der sozialen Zugehörigkeit. Wurde er von der höfischen Gesellschaft mit Argwohn betrachtet, als Gegenpol zu ihrem vom Zeremoniell geprägten Leben und ihrer Ideale, blickte die Kirche mit Misstrauen auf einen Wald, den sie als Ort des Lasters und der Versuchung ansah. Sünde und Triebhaftigkeit vermutete der Klerus an jenen Orten, die sich seinem unmittelbaren Einfluss entzogen. Eine Haltung, die sich auch im zeitgenössischen Minnesang wiederfand. In der Carmina Burana findet sich das Lied 185, das die Vergewaltigung eines tugendhaften Mädchens unter „den verfluchten Linden“ beschreibt.

Christliche Eremiten entschieden sich wiederum ganz bewusst für ein Leben in der Abgeschiedenheit des Waldes, versprach man sich hier religiöse Erleuchtung zu erlangen durch ein asketisches Leben gleich den Vorbildern Jesus Christus oder Johannes dem Täufer. Im Schoße der Natur sollte der Mensch sich wieder rein, veredelt und gottgefällig fühlen. Auch die Ritter der Artussage treibt es immer wieder in den Wald, wenn sie in der Einsamkeit die Nähe zu Gott suchen. In der Erzählung „Tristan und Isolde“ sind beide Hauptfiguren gezwungen, ihre verbotene Liebe im Wald ausleben. Versehentlichen kosten beide von einem Liebestrank, der für Isolde und ihrem künftigen Gatten bestimmt war. Zur Reue wurden die beiden schließlich durch den Eremiten Ogrin geführt. Für ihre Frömmigkeit und ihre Enthaltsamkeit wurden die Eremiten oft verehrt und bewundert, was manche dazu bewog, sich ihnen anzuschließen, woraus so manche Klostergründung im Wald hervorging.

In der Dichtung „Parzival“ ließ Wolfram von Eschenbach den Protagonisten von seiner adligen und verwitweten Mutter im Wald großziehen, um ihn vor den Gefahren des Rittertums zu bewahren. Parzival erliegt nicht nur der Schönheit des Waldes, er findet hier außerdem seine Berufung in der Suche nach dem heiligen Gral. Auch hier weist ein im Wald lebender Eremit, Trevrizent, ihm schließlich den Weg. Eine schicksalhafte Begegnung mit einem im Wald lebenden Einsiedler sollte auch die Hauptfigur in Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens „Der abenteuerliche Simplicissimus“ aus dem Jahr 1668 erfahren. Hier findet ein einfältiger junger Viehhirte in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges (1618 – 1648) Unterschlupf bei einem alten Waldbewohner, der ihn aufgrund seiner Einfältigkeit Simplicius nennt. Dieser bringt ihm Lesen und Schreiben bei und unterweist ihn in christlichen  Glaubenslehren. Nach dem Tod seines alten Herren kehrt Simplicius schließlich zurück in die zivilisierte Welt, wird erneut in den Krieg und zahllose Abenteuer verstrickt, bevor er sich am Ende zu einem Leben als Einsiedler entschließt und der Gesellschaft den Rücken kehrt.

Der Adel schätzte den Wald zunehmend als Ort der Entspannung. Geschätzt als Jagdgebiet verstand dieser es, die Forst- und Waldrechte dem Jagdrecht unterzuordnen. Die Dichtung des Mittelalters befasste sich bereits im 13. Jahrhundert im „Nibelungenlied“ ebenfalls mit der aristokratischen Jagdleidenschaft. Hier lädt König Gunter, begleitet von fünf Rittern zu einer Jagdgesellschaft, in dessen Verlauf Siegfried durch Hagen von Tronje hinterrücks ermordet wird. Doch die Jagd wurde nicht nur bloßer Zeitvertreib angesehen, sie wurde außerdem mit der Jagd nach Tugend oder der Bekehrung eines Sünders assoziiert und als guter Ritter galt, wer außerdem ein guter Jäger war. So verlor der Wald zunehmend seinen Ruf als unheimlicher Ort fremder Mächte und wurde zunehmend als beherrschbar empfunden. Den Zugang zu seiner Schönheit fand jedoch nur ein privilegierter Teil der Bevölkerung und noch lange sollten Vorstellungen übernatürlicher Mächte und der Glaube an im Wald praktizierter Hexenrituale in spätere Epochen hineinwirken.

Von Moderne und Romantik

Im ausgehenden 18. Jahrhundert entstand mit der Romantik eine neue kulturgeschichtliche Epoche, die in Literatur, Kunst und Musik, die sich nicht nur von der Weimar Klassik, sondern auch von den klassischen Vorbildern der Antike abzugrenzen suchte. Das Fremde und Ferne, das Verträumte und Geheimnisvolle bildete einen Gegenentwurf zur Moderne, zu Technisierung und Fortschritt mit seinen verdreckten Städten, rauchenden Fabrikschloten und schlechter Luft. Der Wald hatte über die Jahrhunderte seinen Schrecken verloren und wurde nun in einer Zeit sozialer Umbrüche zum Sehnsuchtsort für eine privilegierte Schicht von Intellektuellen. Durch Französische Revolution und einer durch Aufklärung und Industrialisierung zunehmenden Rationalisierung und Verwissenschaftlichung geprägten Umwelt, schufen die Romantiker eine Zuflucht in eine rätselhafte Welt voller Sagen und Mythen. In den Märchensammlungen der Gebrüder Grimm spiegelte sich die Sehnsucht nach dem Unerklärlichen und Wundersamen. Jacob Grimm war es schließlich auch, der die bereits 1455 wiederentdeckte Schrift „Germania“ von Tacitus als authentische historische Quelle behandelte. Heute stellt sich Historikern die Frage, ob Tacitus mit seiner starken Idealisierung der Germanen lediglich eine Kritik an der römischen Lebensart, ihrem Hang zur Dekadenz und ausschweifenden Gelagen üben wollte, oder lediglich ein Verständnis für das Andersartige wecken wollte, da viele seiner Beschreibungen sich durchaus als zutreffend erwiesen haben.

Weitere zeitgenössische Literaten schickten sich im 19. Jahrhundert an, die Varusschlacht zum deutschen Gründungsmythos zu verklären. Den Anfang machte bereits 1768 Friedrich Gottlieb von Klopstock mit seinem Epos „Herrmanns Schlacht“. Zuvor setzte er bereits mit seiner Ode „Der Hügel, und der Hain“ der Eiche ein Denkmal. Mit dem Eichenlaub als Symbol vollzog sich einmal mehr wie schon in der Romantik eine Abkehr vom griechischen Lorbeer als seinem antiken Vorbild und eine Hinwendung zu einer neuen deutschen Ästhetik. Das Eichenlaub avancierte zum hoheitlichen Symbol und zierte die 1813 von König Friedrich Wilhelm II. von Preußen gestifteten Kriegsauszeichnungen und schmückte Mützen, Fahnen und Standarten. Als Symbol der nationalen Bewegung tauchte es auf beim Wartburgfest 1817, dem Hambacher Fest 1832 und der Revolution 1848. Auch Heinrich von Kleist widmete sich 1803 in „Die Herrmannschlacht“ dem Sieg über Varus‘ Legionen, zu dem nicht zuletzt der undurchdringliche Wald beigetragen hatte. Die Liebe zum Wald, die Stilisierung der Eiche zum nationalen Symbol und die Konstruktion der Germanen als „Waldvolk“ und die Varusschlacht als Gründungsmythos avancierten zum beliebten Sujet von Kunst, Literatur und Musik.

Auch deutsche Komponisten besannen sich zunehmend auf ihre kulturellen Wurzeln, in einer Zeit, in der die italienische Oper immer erfolgreicher wurde. Im Berliner „Opernkrieg“ konnte sich 1821 eine romantische Oper etablieren. Nicht mehr die italienische Oper mit ihren prunkvollen Kostümen und Geschichten um adlige Liebeswirren, sondern Carl Maria von Weber mit seiner als ersten deutschen Nationaloper gefeiertem „Freischütz“ begeisterten das Publikum, in dem einmal mehr der Wald als Kulisse der Handlung diente. In dieser schließt der Protagonist Max einen Pakt mit dem Teufel, um bei einem Wettschießen Agathe, die Tochter des Erbförsters Kuno für sich zu gewinnen. Die Natur erfährt auch hier wieder eine mystische Verklärung neben der bürgerlichen Verankerung seiner Handlung. Die Oper traf damit einen Nerv des Bürgertums und sollte allein in Berlin bis 1884 noch etwa 500-mal aufgeführt werden.

Der Glaube an das in den Wäldern hausende Übernatürliche wurde jahrhundertelang überliefert und war noch bis über die Frühe Neuzeit hinaus im Volksglauben verankert und ließ sich bis in die vorchristliche Zeit zurückverfolgen. In eine Zeit, in der ein Schlaf unter einem Hollerbusch vor Unfällen, Schlangen und Hexen schützen sollte und Lindenbäume als mächtig galten. Ehen und Verträge, die unter ihr geschlossen wurden, sollten lange halten, Femegerichte wurden unter ihr abgehalten und Recht wurde hier gesprochen.

Auch Wilddiebe erfuhren in dieser Zeit eine romantische Verklärung und wurden als Volkshelden Teil der Folklore. So soll im 18. Jahrhundert der Wilddieb Matthias Klostermayr die Vorlage für Friedrich Schillers „Die Räuber“ gewesen sein. Dargestellt als friedliche Idealisten, die gegen eine ungerechte soziale Ordnung aufbegehren, brachte sie dem Autor 14 Tage Haft durch den Herzog Carl Eugen von Württemberg ein. Zu positiv seien diese Gesetzlosen seiner Meinung nach dargestellt worden, während ein vorwiegend junges Publikum ihm bei der Uraufführung begeistert applaudierte. In den Räuberbanden, der auch Frauen wie Juliana Blasius, die neunte Braut des „Schinderhannes“ Johannes Bückler angehörten, zeigte sich erneut der Konflikt zwischen Adel und ländlicher Unterschicht. Letztere fühlte sich durch schiere Not im Recht, sich das zu nehmen, was der Wald ihnen schon immer gegeben hatte. Hinzu kam, dass die Bauern unter den Folgen der Wildschäden zu leiden hatten, verursacht durch das Wild, das der Adel zum Zwecke der Jagd gezielt aufgepäppelt und herangezüchtet hatte. Doch die zeitgenössische Verklärung der Wilderer und Räuberbanden als soziale Rebellen ist historisch nicht haltbar. Tatsächlich ermordeten sie bei ihren Raubzügen auch arglose Förster und Jagdaufseher.

Auch in der Malerei wurde der Wald zu einem beliebten Motiv, wenn auch mit  unterschiedlichen Akzenten. Kehrte man in der Architektur zu mittelalterlichen Stilen zurück, wurde die Naturmalerei zu einem beliebten Motiv romantischer Künstler. Wälder, teilweise düster und geheimnisvoll, fingen die Stimmung dieser Epoche ein. Caspar David Friedrichs Landschaftsdarstellungen wie sein um die  1810er entstandenes „Klosterfriedhof im Schnee“ wirken wie Traumbilder, in ihrer Wirkung düster, fremdartig und unnatürlich.

Caspar David Friedrich (1774 - 1840) "Klosterfriedhof im Schnee", um 1810

Im ausgehenden 19.  Jahrhundert entstand mit der „Forstästhetik“ eine praktische Kulturwissenschaft. Diese sollte die in Kunst und Literatur erzeugten Naturbilder in die Realität übertragen und Naturräume diesen Vorstellungen entsprechend umgestalten. Dessen  Begründer Heinrich von Salisch stellte in seinem gleichnamigen Werk 1885 das Postulat von der Natur auf, die den Menschen in der fortschrittsorientierten Zeit gleichermaßen Kunstausstellung, Theater und Bibliothek sein solle. Im 19. Jahrhundert wurde durch Preußen eine derartig massive Wiederaufforstung mit Fichtenwäldern betrieben wurde, dass diese bald als „Preußenbaum“ bekannt wurde. Doch während die Fichten-Monokulturen als „künstlich“ wahrgenommen wurden, sah man die ebenfalls angelegten Buchenwälder als „natürlich“ an. Die neu geschaffenen Wälder, mit ihren Schneisen, Hochsitzen und Lichtungen mit Futterkrippen entsprachen von ihrer Gestaltung her noch immer den Bedürfnissen des auf seine Jagdprivilegien bedachten Adels.

Doch noch immer blickte man zu dieser Zeit mit Neid aus dem politisch zerklüfteten Deutschland auf den französischen und englischen Nationalgeist und begann mit der Suche nach identitätsstiftenden Mythen und konstruierte das Bild eines eigenen und urtümlichen Volksstammes. Das politische Bewusstsein jener Tage war noch immer stark geprägt von der Niederlage gegen Napoleon bei Austerlitz 1806, die das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation einläutete, der anschließenden französischen Besatzung und den darauf folgenden Kriegen gegen Frankreich 1813 und 1815. Diese Erfahrungen verlangten nach einer Abgrenzung zum westlichen Nachbarn. So wurden dann mit der Entstehung der Nationalstaaten im frühen 19. Jahrhundert und dem Aufkommen der Ideologie des Nationalismus Naturräume zunehmend mit nationalem Pathos aufgeladen. Geistige Vorarbeit dazu leistete der Volkskundler und Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl (1823 – 1879), der bereits eine Verbindung zwischen dem Nationalcharakter eines Volkes und seiner Landschaft herstellte. Als „überzivilisiert“ sah er Frankreich an, mit seinen getrimmten Parklandschaften, „degeneriert“ sei der englische Nationalgeist als Ergebnis seines begangenen Waldfrevels, wo mit noch größerer Entschlossenheit ganze Wälder gerodet wurden. Der Publizist und Geschichtsprofessor Ernst Moritz Arndt (1769 – 1860) verknüpfte Landschaft und Volkscharakter miteinander, sprach verächtlich von Italien als „Land der Citronen und der Banditen“, während er vom eigenen „Vaterlande grüner Eichen“ schwärmte.

Es war die Begleitmusik einer unheilvollen Entwicklung.

Fortsetzung folgt…

Literatur:

Urmersbach, Viktoria. „Im Wald, da sind die Räuber. Eine Kulturgeschichte des Waldes“. Frölich & Kaufmann Verlag GmbH, Berlin 2018.

Max und Moritz – Die Geschichte eines Welterfolgs

Zwei Heranwachsende terrorisieren mit zum Teil schweren Straftaten eine kleine Dorfgemeinschaft. Am Ende werden sie selbst Opfer einer brutalen Lynchjustiz. Die Bildergeschichte Max und Moritz von Wilhelm Busch wurde zum Welterfolg, einige Verse fanden als geflügelte Worte Eingang in die deutsche Alltagssprache. Doch die morbide Bildergeschichte rief zeitgenössische Sittenwächter auf den Plan, vielerorts wurde das Werk als jugendgefährdet eingestuft und verboten. Dennoch fand sie ihren Weg um die ganze Welt.

Heinrich Christian Wilhelm Busch erblickte am 15. April 1832 in dem kleinen Dorf Wiedensahl im Schaumburger Land das Licht der Welt. Er war das erste von sieben Geschwistern einer frommen protestantischen Familie. Im Alter von neun Jahren verließ er das beengte Elternhaus und verbrachte seine weitere Kindheit im über 160 Kilometer entfernten Ebergötzen bei seinem Onkel, dem Pastor Georg Kleine, der ihn fortan privat unterrichtete. Noch im Jahr seiner Konfirmation 1847 folgte er dem Wunsch seines Vaters und begann ein Maschinenbaustudium am Polytechnikum in Hannover. Da jedoch sein eigentliches Interesse der Malerei galt, brach er das Studium vorzeitig ab und wechselte für ein Kunststudium nach Düsseldorf, später verschlug es ihn nach Antwerpen. Letztlich verschlug es ihn an die Münchner Akademie der Künste. Für den Künstlerverein „Jung-München“ fertigte er hier Zeichnungen und Gedichte für eine humoristische Zeitschrift an.

Sittlichkeit und Rebellion

1864 entstand seine berühmte Bildergeschichte, die er Heinrich Richter kostenlos zum Druck anbot. Bereits einige Jahre zuvor verfasste Wilhelm Busch das 1862 uraufgeführte Bühnenstück „Hänsel und Gretel“, wobei er in einigen Punkten von der klassischen Vorlage abwich und sie zu einer coming-of-age-Geschichte umschrieb, einer Parabel über das Erwachsenwerden. Hier lässt er die Kinder freiwillig in den Wald ziehen. Die Kinder erscheinen hier nicht als bloße Opfer stiefmütterlicher Launen, sondern als willensstarke Kinder, die entschlossen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und eigene Wege gehen. Eine 1863 erneut abgeänderte Bildergeschichte des Märchens traf jedoch nicht den Geschmack des Verlegers.

Mit Strichzeichnungen illustriert, unterlegt mit lautmalerischen Knittelversen begleitet Max und Moritz die sieben Missetaten der jugendlichen Hauptfiguren bis hin zu ihrer brutalen Ermordung. Doch der Dresdner Verleger lehnte ab. Das anarchische Treiben der beiden Lausbuben wollte nicht in die Welt zeitgenössischer Kinderbuchliteratur passen. Tatsächlich brach Wilhelm Busch mit seiner bebilderten Lausbubengeschichte mit den bürgerlichen Konventionen einer Zeit, in der Kinderbücher ein häusliches Idyll vermittelten, geprägt von christlicher Barmherzigkeit und familiärer Harmonie. Die Kinderfiguren jener Zeit wurden als brav, fromm und stets folgsam dargestellt, gleich den Holzschnitten der Gebrüder Grimm des im Jahr 1848 ebenfalls vom Verlag Heinrich Richters herausgegebenen „Ludwig Richter Albums“. Kinderbücher galten als ein Erziehungsmittel jener Zeit. Statt sie Furcht vor Strafe zu lehren und körperlich zu züchtigen, sollte an ihre Einsicht als vernunftbegabte Wesen appelliert werden. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts prägten spätaufklärerische Philanthropen ein Bild von Kindern als unvollkommene Menschen, die erst durch die Erziehung zum Menschsein geführt werden mussten.

Zeitgenössische Werte und Normen wie Ordnung und Anstand, Gehorsam und Frömmigkeit wurden idealisiert und kindgerecht literarisch dargeboten. In der Zeit des Biedermeier wurde die Kindheit als eigener Lebensabschnitt anerkannt. Entsprechende Werte dieser Zeit sollten durch eine emotionalisierte Kinder- und Jugendliteratur vermittelt werden. Es herrschte die Vorstellung von einem Kind als ideales Abbild einer reinen und natürlichen Menschheit, während die Erwachsenen sich von diesem Ideal entfernt hätten. Kindheit sollte in diesem Genre als sanftes Idyll, geprägt von Zutraulichkeit und Frömmigkeit erfahren werden.

Aber es regte sich auch Widerspruch. Gegen diese Art von Literatur protestierte bereits der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann 1844 mit seiner Bildergeschichte „Der Struwwelpeter“. Er erkannte, dass sich das in den Kinderbüchern beschriebene kitschig-bürgerliche Ideal nur schwerlich mit der Realität deckte, was sich besonders auf dem Lande zeigte. Fernab der Welt aus wohlbehüteten Kinderstuben eines privilegierten Bürgertums ließ sich beobachten, dass die Kinder hier eben weder brav noch fromm waren und es auch nicht sein wollten. Statt von reiner und zärtlicher Sittlichkeit durchdrungen, empfanden sie sogar eine regelrechte Freude am Schmutz. Zeitgenossen beklagten ihren Hang zum Stehlen und der Lügerei. Sie quälten Tiere und kleinere Geschwister, wollten nicht beten, spielten mit Feuer und zeigten bereits in jungen Jahren ein auffälliges Interesse an ihren Geschlechtsorganen. Im Struwwelpeter erfahren Kinder denn auch bereits durch kleinste Normverletzungen schwerste körperliche Strafen bis hin zu Verstümmelungen, einige finden durch ihren Ungehorsam sogar den Tod.

Mit seiner Kritik stand Hoffmann nicht allein da. In seiner 1857 veröffentlichten Schrift „Die Regierung der Kinder“ beschrieb der Philosoph und Pädagoge Tuiskon Ziller Kinder noch als Störfaktor, nur darauf aus, „die Beschäftigungen und Einrichtungen der Erwachsenen verletzend und störend“. Kinder, die nach Unsinn trachteten, müssten demnach in ihre Schranken gewiesen werden, um die Gesellschaft „unter allen Umständen […] gegen die Störungen von Seiten der Jugend“ zu schützen.

Max und Moritz erscheinen wie eben genau diese elterliche Ordnung störende Kinder, vor der die Pädagogen so eindringlich warnen. Chaos und Zerstörung tragen sie in eine Welt der Beschaulichkeit. Nicht bloß Dummejungenstreiche, handfeste Straftaten von Tierquälerei, Mundraub, Einbruch und Diebstahl bis hin zu einem Sprengstoffanschlag. Am Ende ereilt die notorischen Rabauken jedoch ein grausames Schicksal, das nicht mehr mit den spätaufklärerischen Idealvorstellungen in Einklang zu bringen ist und mehr an die Exempelgeschichten als Ermahnung zur Tugendhaftigkeit erinnern, bei gleichzeitiger Anwendung einer unerbittlichen Strafpädagogik zum Zwecke der Abhärtung und Disziplinierung. Ihr grausamer Tod stellt eine Ordnung der Erwachsenen wieder her.

Es nimmt daher nicht wunder, dass fernab aufklärerischer Ideale die Epoche noch immer in hohem Maß geprägt war von struktureller und personeller Gewalt. Noch immer erfuhren Heranwachachsende schon von frühester Kindheit an Züchtigungen durch das Elternhaus, in der Schule herrschte der rohrstockschwingende Lehrer mit ungebrochener Autorität. Was spätere Lehrmeister nicht kleingekriegt hatten, übernahmen die Unteroffiziere und Feldwebel auf dem Kasernenhof oder der Vorarbeiter in der Fabrik. Gehorsam und Fleiß galten noch immer als die typischen Tugenden des protestantischen Bürgertums. Max und Moritz quälen ihre erwachsenen Mitmenschen ohne jede Gewissensregung. Schwerste Verletzungen und Verstümmelungen ihrer Opfer werden billigend in Kauf genommen. Wilhelm Busch verstieß damit auch gegen ein damals vorherrschendes bürgerlich-wohlwollendes Humorverständnis, dass stets Anteil nimmt und letztlich immer auf Besserung hofft.

Ein Spiegel sozialer Verhältnisse

Doch die Bildergeschichte liefert außerdem einige Details über das Leben und die sozialen Umstände seiner Zeit. Max und Moritz entstand zum Ende des Welfenstaates. Der herrschende Monarch, König Georg V., durch eine Augenerkrankung blind und misstrauisch geworden, lebte zu dieser Zeit bereits fern jeder politischen Realität. Mehr als die Lösung sozialer Probleme interessierte ihn sein Hofstaat, die Oper und seine Pferdezucht. Das Elend auf dem Lande hatte nach den Revolutionswirren von 1848 spürbar zugenommen. In Wilhelm Buschs Heimatort Wiedensahl streiften Tagelöhner umher, Besitzlose lebten in kargen Behausungen am Rande der Ortschaft. Ohne das früher vom Kloster bereitgestellte Weideland für ihr Vieh, waren sie gezwungen, Ziegen oder Kühe zum Schlachter zu bringen, nachdem das Dorf aus der Herrschaft Loccums losgekauft wurde und „Gemeindewald“ und „Gemeindeland“ in die Verwaltung der Bauern überging, die sich gegen die Besitzlosen abzugrenzen versuchten.

Wie viele seiner Bildergeschichten stellt auch die Geschichte von Max und Moritz besitzlose Landleute als abgemagerte Elendsgestalten dar. Spindeldürr, abgemagert bis auf die Knochen, immer die gleiche Kleidung tragend und leicht erkennbar an ihren Holzpantinen, Zipfelmützen und Kniehosen. Wohlgenährt erscheinen lediglich Bäcker, Müller, Schlachter und Gastwirte. Auch einige Figuren aus Max und Moritz sind so als gesellschaftliche Außenseiter zu erkennen. Schneider Böck aus dem dritten Streich verkörpert eine dieser Randfiguren. Spott über den Schneider war damals selbst unter Kindern weit verbreitet, galt dieser Beruf doch als unmännlich und unredlich, nicht selten überschnitt er sich mit Antisemitismus. Da viele Schneider osteuropäische Juden waren, warf man ihnen außerdem vor, mit dem Teufel im Bunde zu stehen und Unzucht mit Ziegen zu treiben, was sich in der  Bildergeschichte im Spottruf „Schneider, Schneider, meck, meck, meck!!“ wiederspiegelt, mit dem Max und Moritz den Schneider aus dem Haus locken. Wilhelm Busch verzichtete hier jedoch darauf, die Figur des Schneiders als antisemitische Karikatur darzustellen, auch wenn andere Zeichnungen und Verse deutlich mit derartigen Zügen versehen sind. Auch der Lehrer Lämpel, der das Opfer des vierten Streiches wird, ist ein Außenseiter der  Gesellschaft. Sozial kaum höhergestellt als ein Tagelöhner muss er um seine schlechte Bezahlung aufzubessern, zusätzliche Pflichten übernehmen wie den Kantor- oder Küsterdienst.

Eine Auswanderungswelle zwischen 1863 und 1865 nach Amerika ließ viele Kinder elternlos zurück, die nun auf das Betteln und Stehlen angewiesen waren. Besonders während der Wintermonate zeigte sich dieses Elend, als jüdische und christliche Kinderbanden durch die Dörfer zogen und um Kartoffeln oder gar etwas Viehfutter bettelten. Verwahrloste Kinder wurden von den Behörden sogar steckbrieflich gesucht und liefen Gefahr in die Zuchthäuser von Celle oder Lüneburg eingewiesen zu werden, wo sie den erwachsenen Häftlingen gleichgestellt wurden. Bei Dieben älter als zwölf Jahren konnte sogar die Todesstrafe verhängt werden. So erinnert auch das Bild von Max und Moritz, die der  Bildergeschichte vorangestellt ist an diese zeitgenössischen Steckbriefe. Sinti und Roma schickten oft ihre Kinder auf Hühnerfang, wie es im ersten Streich beschrieben wird, mit einer Angelschnur und einem Stück Brot. So attestiert denn auch die Autorin Eva Weissweiler in ihrer überaus lesenswerten Biografie über den „lachenden Pessimisten“ der Bildergeschichte „den Charakter einer bitteren sozialen Anklage“.

Von der Ächtung zum Welterfolg

Erste Reaktionen empörter Pädagogen folgten erst mehr als fünf Jahre nach seiner  Veröffentlichung. Das Königreich Hannover existierte nicht mehr, mit der Gründung des Deutschen Reichs entstanden vielerorts sogenannte Zucht- und Besserungsanstalten für Kinder. Das Elend der Auswanderer- und Tagelöhnerkinder wurde im Taumel einer nationalen Aufbruchsstimmung verdrängt oder geriet in Vergessenheit. Dadurch ergaben sich viele Fehlurteile zeitgenössischer Pädagogen, die in dem Werk eine jugendgefährdende Wirkung beimaßen.

Ungeachtet der Kontroversen wurde es der Beginn eines Welterfolges, der den Autor auf einen Schlag berühmt machte. „Max und Moritz“ wurde mittlerweile in 281 Sprachen übersetzt, gelangte über deutsche Auswanderer in die USA und nach Argentinien, 1887 erfolgte eine erste Übersetzung ins Japanische. Am 12. Dezember 1897 erschienen erstmals in der Sonntagsbeilage des  „American Humorist“ die Comicstrips der  Katzenjammer Kids, die auch äußerlich den Figuren von Wilhelm Busch nachempfunden waren. Dessen Verleger William Randolph Hurst hatte den deutschstämmigen Rudolph Dirks damit beauftragt, einen Comic nach dem Vorbild des Wiedensahler Malers und Schriftstellers zu entwerfen. Als Dirks sich einige Zeit später jedoch mit Hurst überwarf, führte er die Comicreihe unter dem Titel „The Captain and the Kids“ beim New York Herald fort. Wilhelm Busch selbst gab an, dieses Werk lediglich „zu Nutz und eigenem Plaisir“ verfasst zu haben und damit ohne jede politische oder soziale Botschaft. Ob er nun wirklich damit zum Vater des Comic ist weiterhin umstritten, der Beliebtheit seiner Bildergeschichte tut das allerdings keinen Abbruch.

Literatur:

Weissweiler, Eva. „Wilhelm Busch: der lachende Pessimist: eine Biographie.“ Kiepenheuer & Witsch, 2007.